Wed, Apr, 2024

»Die Lage ist jetzt schlimmer als nach Kriegsbeginn«

Von Benjamin Bidder und Michael Sauga
Spiegel Online 08.04.2024, 12.04 Uhr

Vollstaendige Artikel kann hier gelesen werden:
Polens Blockade der Ukraine-Grenze: »Die Lage ist jetzt schlimmer als nach Kriegsbeginn« – DER SPIEGEL

Westliche Konzerne stornieren Aufträge in der Ukraine, deutsche Unternehmer vor Ort fürchten um ihre Existenz – nicht wegen des Kriegs, sondern weil Polen die Grenze nach Westen blockiert. Warum greift die EU nicht ein?

Als wieder gar nichts ging, schickte Markus Ciupek eine seiner Büromitarbeiterinnen auf eine Mission. Ciupek ist Gründer und Chef eines mittelständischen Zulieferers: Mit ein paar Hundert Mitarbeitern produziert Ciupeks Firma Time & Space unweit von Lwiw in der Westukraine Kabelbäume, für Autokonzerne und Hersteller von Haushaltsgeräten.

Doch seit dem vergangenen Oktober hat er zunehmend Probleme, seine Lieferverpflichtungen einzuhalten. Seitdem sind die Wartezeiten für ukrainische Lkw an den Grenzübergängen nach Polen angestiegen, von wenigen Stunden bis auf mehr als drei Wochen. Der Warenfluss zwischen EU und Ukraine wird seit Monaten massiv gestört, von wechselnden Gruppen. Ihre Motive sind dabei mal mehr, mal weniger nachvollziehbar. Aktuell sperren polnische Bauern die Grenze. Sie protestieren gegen Einfuhren aus der Ukraine, aber auch gegen Umweltauflagen des New Green Deals der EU. Anfang März war die Lage so prekär, dass einer von Ciupeks Abnehmern kurz davor stand, die Fertigung anzuhalten, weil die Bauteile aus der Ukraine nicht durchkamen.

Unternehmer Ciupek: »Es geht hier inzwischen wirklich um unsere Existenz«
(C) Unternehmer Ciupek: »Es geht hier inzwischen wirklich um unsere Existenz«

Da bat der deutsche Geschäftsmann eine ukrainische Angestellte, mit ihrem Privatauto zum Kunden nach Polen zu fahren. Sie brachte zwei Kisten mit dringend benötigten Bauteilen über die Grenze: gerade noch rechtzeitig für den Auftraggeber, aber ohne die eigentlich fällige Anmeldung bei den Grenzbehörden und die nötige Verzollung. Ciupek, rotes Polohemd, blau umrahmte Brille, zuckt ratlos mit den Schultern. Hätte er besser einen Fabrikstillstand bei seinem Kunden riskieren sollen – und den Verlust eines überlebenswichtigen Auftrags? »Es geht hier inzwischen wirklich um unsere Existenz«, sagt Ciupek.

Keine 800 Kilometer östlich von Berlin spielt sich seit einem halben Jahr ein Drama ab, von dem die deutsche Öffentlichkeit nur selten Notiz nimmt. Seit dem Spätherbst ist der Warenverkehr zwischen der Ukraine und Polen empfindlich gestört. Die Verursacher wechseln dabei: Erst waren es bummelnde Kontrolleure, dann protestierende Trucker. Seit einigen Monaten nun haben militante Bauern die Kontrolle über mehrere Grenzübergänge übernommen. Die Protestler teilen Anweisungen an die polnischen Grenzer aus, so hat es Ciupek beobachtet: Militärlaster dürfen passieren, ansonsten aber sollen nur wenige Fahrzeuge pro Stunde die Grenze queren.

Fertigung bei Time & Space in der Westukraine
(C) Fertigung bei Time & Space in der Westukraine

Weil viele Transporter auf andere Routen auswichen, stiegen auch zur Slowakei oder Ungarn die Wartezeiten drastisch an. Im Winter kamen mehrere ukrainische Lkw-Fahrer ums Leben, während sie an der Grenze warteten.

Auch wirtschaftlich sind die Folgen dramatisch: Die Blockade könnte die vom Krieg gezeichnete Ukraine bis zu 400 Millionen Dollar kosten, hat das ukrainische Landwirtschaftsministerium vorgerechnet. Die Chefin des Ausschusses für Verkehr und Transport im ukrainischen Parlament rechnet sogar mit Verlusten in Höhe von bis zu einem Prozent der ukrainischen Wirtschaftsleistung.

Keine neuen Aufträge für die Ukraine

Das sind Schäden, für die am Ende vermutlich Europas Steuerzahler aufkommen müssen: Die Staatseinnahmen der Ukraine steigen dank wachsender Wirtschaft zwar. Sie reichen wegen Russlands Angriff aber noch lange nicht aus, alle Ausgaben zu decken. Das Defizit dürfte 2024 bei umgerechnet 36 Milliarden Euro liegen – eine Summe, die angesichts der politischen Turbulenzen in Washington wohl zu einem großen Teil von den Europäern aufgebracht werden muss.

Langfristig könnte die Blockade die Ukrainer und ihre Verbündeten noch teurer zu stehen kommen. Die Probleme bestehen inzwischen schon so lange, dass sie Investoren und Auftraggeber abschrecken. Dabei lautet das Ziel der EU eigentlich, die Ukraine in die Wertschöpfungsketten von Europas Wirtschaft einzubinden. Gerade geschieht jedoch das Gegenteil. »Unsere Kunden platzieren keine neuen Aufträge mehr in der Ukraine«, sagt Unternehmer Ciupek. Nach Kriegsbeginn 2022 sei es noch gelungen, trotz großer Schwierigkeiten die Kunden weiter verlässlich zu beliefern. »Jetzt aber steht das alles auf dem Spiel. Die Lage ist schlimmer als nach Kriegsausbruch.«

Konzerne im Westen beginnen, Standortentscheidungen neu zu treffen. Ciupek hat das gerade erlebt: Ein Hersteller von Haushaltsgeräten hat die Vergabe eines Auftrags an seine Fabrik in der Westukraine gestoppt, wegen der Lieferprobleme. »Da hängen 50 Jobs dran«, sagt Ciupek.

Das ist eine Entwicklung, die auch andere deutsche Firmen bestätigen. In den vergangenen Monaten sei es immer wieder zu kurzzeitigen Produktionsausfällen in EU-Werken gekommen, weil Teile aus der Ukraine nicht rechtzeitig ankamen, erzählt ein Manager eines großen deutschen Zulieferers. »Viele Autobauer wollen das Risiko Ukraine nicht mehr mittragen«, sagt der Mann. Es sei zu erwarten, dass Kunden die Reißleine ziehen: »Dieses Risiko wird real.« Erschwerend für die Ukraine kommt hinzu, dass viele Zulieferer bereits parallele Fertigungslinien in anderen Ländern wie Rumänien oder Serbien aufgebaut haben. Eigentlich sollten diese nur übernehmen, falls es in der Ukraine mal zu Lieferunterbrechungen kommen sollte.

Weil die Störungen des Handels inzwischen Alltag sind, droht die Ukraine ihren Kostenvorteil gegenüber den Nachbarstaaten zu verlieren. Die Preise für den Lkw-Transport in die EU sind explodiert, die Außenhandelskammer (AHK) in Kiew spricht von einem Plus von 300 Prozent. Weil vor allen Dingen schwere Lastwagen blockiert werden, schicken manche Firmen statt einem Lkw nun zehn Kleintransporter über die Grenze. Dafür braucht es aber auch zehn Fahrer. »Wirtschaftlich ist das nicht. Wir verdienen kein Geld mehr«, sagt Ciupek.

Wie konnte es so weit kommen? Nach dem russischen Überfall hatte die EU ukrainische Agrarprodukte zollfrei ins Land gelassen, um das Land in seinem verzweifelten Abwehrkampf gegen den Kreml zu unterstützen. Von den Einkünften aus dem EU-Export sollten nicht nur ukrainische Landwirte profitieren, sondern auch der Kiewer Staatshaushalt. Andernfalls, so die Logik der EU-Kommission, müsse der Etat durch direkte Zuschüsse aus Brüssel aufgepolstert werden.

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